Fußball-Deutschland ist aus dem Häuschen und feiert seine WM-Helden: Übervolle Fanmeilen mit Fischers atemlosen Nächten und peinlich-überheblichen "So gehen Gauchos"-Tänzen der Protagonisten, "Schwarz-Rot-Gold-Flaggen" aus allen Fenstern, Ballermannisierungs-Gesänge von Bayern, Berlin bis Helgoland, politische Trittbrettfahrer a la Klaus Wowereit und noch weit abwärts mit germanischen Trikots und Schals, (zu befürchtende) "TV-Total"-Raabshows mit Ex-Groupies, Ex-Lehrern, Taxifahrern und Saunawarten der Weltmeister, "Wer wird Millionär"-Entscheidungsfragen über die geheimsten Hobbies der "Schland-Götzen des Landes"..... – und ja, Deutschland hat sich den WM-Titel und die daraus resultierende Euphorie verdient: Ein langfristiger Aufbau der "Goldenen Generation" seit 2006 (inkl. verlorenem EM-Finale 2008 gegen Spanien, WM-Semifinale 2010 und EM-Semifinale 2012), großartige Fitness und Kondition, eine homogenes Team mit Top-Spiel- und Organisationskultur, ein strategisch denkender Trainer und natürlich auch der unbestreitbare Nimbus einer "Turniermannschaft".
Tja, und auch nicht. Denn beim WM-Finale im legendären Maracana-Stadion von Rio waren die bis dahin eher minimalistisch agierenden Argentinier tonangebend. Ihnen fehlte nur ein einziger Reservist der deutschen Weltmeistertruppe. So einer wie der spätere deutsche Matchwinner Götze, WM-Rekordtorschütze Klose oder Chelsea-Vollstrecker Schürrle, die nicht nur Chancen herausarbeiten, sondern – alleinstehend vor dem Tor – diese auch verwerten.
Higuain vergab in der 22. Minute stümperhaft, in der 30. Minute verhinderte eine Abseitsstellung die Führung der Argentinier. In der 57. Minute streckte Deutschlands Star-Keeper Manuel Neuer im Elferraum kompromisslos Higuain mit dem Knie nieder, der italienische Schiedsrichter Rizzoli entschied auf Stürmerfoul (!). Der nicht ganz gesunde Lionel Messi (der sich mehrmals beim Finale übergeben musste), scheiterte mehrmals bei seinen Sturmläufen, und selbst in der Verlängerung hatte Palacio mit seinem missglückten Heber noch den Matchball auf seinem Fuße.
Die Chancen der Deutschen dagegen blieben – von einem Stangenpendler durch Höwedes abgesehen - Mangelware. Bis zur 113. Minute (!): Bayern-Reservist Götze kam, sah und siegte, ebenso wie in den Matches zuvor ein anderer der germanischen 22-Mann-Truppe. Wie Hummels beim 1:0 gegen Frankreich, Klose beim 2:2 gegen Ghana oder Schürrle beim 2:1 nach Verlängerung gegen Algerien. In Matches, bei denen man vielleicht nicht unterlegen, aber zumindest nicht mehr als ebenbürtig war.
Herausgestochen sind die Leistungen der Deutschen nur beim 4:0-WM-Debüt gegen Portugal und gegen Brasilien, wobei letzteres Debakel – mit 4 Toren (inkl. 3 Ankicks bei der Mittellinie) in 6:40 Minuten – nicht einmal einem niederösterreichischen Unterligaklub passiert wäre. Spätestens nach dem 2. Tor hätte wohl ein Amateur-Libero einen der deutschen Stürmer mit einem Henkersfoul ins Hospital befördert.
Deutschland ist somit das erste europäische Team, das jemals in einem südamerikanischen Land den WM-Titel geholt hat. Seinen 4. nach 1954, 1974 und 1990. Jogi Löw, einst Meistertrainer vom FC Tirol und von Austria-Mäzen Frank Stronach wegen "mangelnden Siegerwillens" auf die Straße gesetzt, strafte seine (internen) Kritiker Lügen und wird wohl weiterhin dem Team zur Seite stehen, die EM in Frankreich 2016 – Deutschland war zuletzt Europameister 1996 - ist nicht fern. Dort wird man wohl wieder auch mit dem jungen französischen Team und revitalisierten Spaniern rechnen müssen.
Und natürlich auch mit den Holländern, die nach dem 3:0-Sieg im Spiel um Platz 3 gegen Brasilien noch immer ihrer 4. Finalteilnahme (nach ihren Vize-Titeln 1974, 2978 und 2010) nachtrauerten. Trainer Van Gaal wechselt nun zu Manchester United, neuer Holland-Trainer wird Gus Hiddink. Bei den Brasilianern hat Scolari bereits seinen Rücktritt erklärt, ein personeller und strategischer Neuaufbau rund um Neymar & Da Silva für die WM 2018 in Russland ist unumgänglich. Das 1:7-Debakel in Belo Horizonte wird allerdings der Selecao und ihren 200 Millionen Fans noch lange in trauriger Erinnerung bleiben.
„Es war genau anders herum. Abseits des Fußballfeldes hat alles gut funktioniert, unser Team war die wirkliche Enttäuschung“ so ein Fan der Selecao. Die WM allerdings war – mit Abstrichen – ein voller Erfolg: 64 Spiele, 171 Tore (= 2,67 pro Spiel), insgesamt 3,4 Millionen Zuschauer mit der – nach der USA-WM 1994 - zweithöchsten Durchschnittsquote von 54.592 pro Spiel, große Sensationen, herbe Enttäuschungen, spannende Elfmeterduelle, neue Idole.
Zum Spieler des Turniers wurde – nicht ganz unumstritten - Final-Verlierer Lionel Messi vor Müller und Robben gekürt, als bester Tormann (und "Libero") Deutschlands Manuel Neuer. Als bester junger Spieler wurde Frankreichs Paul Pogba gewählt, die große Zukunftshoffnung der "Les Bleus". Torschützenkönig wurde der Kolumbianer James Rodriguez mit 6 Toren aus 5 Spielen. Einen Fauxpas leistete sich die FIFA mit dem Fairplay-Preis. Dieser ging ausgerechnet an die Kolumbianer, deren Verteidiger Zuniga Brasiliens Superstar Neymar durch einen Knietritt gegen den Rücken niederstreckte und ihm einen Lendenwirbelbruch zufügte.
Und damit wären wir auch schlussendlich beim Negativpunkt dieser WM: Zu viele böse Fouls blieben unangeahndet, die teilweise überforderten Schiedsrichter setzten mit falscher Toleranz die Gesundheit der Ballzauberer aufs Spiel. Hier ist die FIFA gefordert, für neue Maßstäbe zu sorgen, und sei es mit langen Sperren nach einem Videobeweis. Bei einem harmlosen Bisschen von Uruguays Suarez zeigte man sich ja auch nicht zimperlich, dieser muss nicht nur 9 Länderspiele pausieren, sondern steht auch seinem neuen Klub Barcelona erst Ende Oktober nach 4 Monaten Sperre wieder zur Verfügung. Bei "Vampiren" besteht aber kein Grund zur Eile :-)
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tsSLAueP (Montag, 22 August 2022 11:04)
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