"Leben Veganerinnen und Burschenschafter, Superreiche und Geflüchtete überhaupt in der gleichen Gesellschaft?" - Eine Frage, die im Programmheft des diesjährigen Kremser Donaufestivals aufgeworfen wird. "New Society" nennt sich dementsprechend das Motto des Musik-, Performance- und Art-Events inmitten der Wachaumetropole Krems, das seit 2005 Besucher aus aller Welt an 2 aufeinanderfolgenden Wochenenden anlockt.
"Den sozialen Kitt namens Gesellschaft gibt es gar nicht", meinte einst Margaret Thatcher. Und tatsächlich bewegen wir uns derzeit in einer neoliberalen Epoche, die geprägt ist von einem stetigen Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich, menschenverachtenden Slogans von Rechtspopulisten und Rechtsextremen (die - so Autorin Isolde Charim bei einer Talk-Runde - "kein Konzept einer Gesellschaft haben") und von Echo-Kammern sozialer Netzwerke, die bei mangelnder Kenntnis der Algorithmus-Systeme die eigene Meinung auf einen Sockel stellen und abweichende Argumente ausklammern.
Gegen den Zerfall formiert sich Widerstand, der auf Gemeinschaft statt Gesellschaft setzt, so der künstlerische Leiter Thomas Edlinger, der ein spannendes Programm für Kultur- und Subkulturinteressierte allen Genres konzipiert hat. Veranstaltungs-Location ist auch wieder die Minoritenkirche im historischen Städtchen Stein, in deren Gemäuern die Wiener Schlagzeugerin Katharina Ernst kongenial den Sound von Drums, Synthesizer, Kalimbas und Metallobjekten zu einem verschachtelten Techno-Beat vereinigte. Moderne Stadtbelebung praktizierten verschiedene Indie-Blasmusikbands unter der Leitung von Markus und Micha Acher (von The Notwist), die als "Alien Parade" von der Minoritenkirche Richtung Main Location Österreichhallen marschierten und zahlreiche Passanten mit ihrer Fröhlichkeit und Lässigkeit ansteckten.
Im Stadtsaal begeistert die hochtalentierte schwedische Sängerin und Pianistin Anna von Hausswolff mit düster-hymnischen Melodien zwischen Hoffnung und Verzweiflung. "Dead Magic", so heißt ihr brandneues Album, aufgenommen in der Kopenhagener Marmorkirche, die einzelnen Tracks fast alle über 10 Minuten lang. Hausswolff bekommt für die Live-Darbietung ihrer musikalischen Epen Riesen-Applaus und bedankt sich mit einer finalen Sopran-Einlage mitten im Publikum.
In der kleineren Halle 2 geben sich die norwegischen Noise Rocker von Arabrot ein Stelldichein. Die Band existiert seit 2001, seit 2012 ist die Electro-Popperin Karin Park mit in der Community, die zwischendurch mit wavigen Balladen für Abwechslung sorgt. Spannend auch die Bezüge zu Nick Cave (Bandleader Kjetil Nernes in stimmlicher Hinsicht), Nina Simone (durch das sinistre "Sinnerman"-Cover) und zum französischen Dichter Lautreaumont und seinen "Gesängen des Maldoror". Zu hören auch auf dem neuen Album "Who do you Love".
Aus Alabama stammt der 1950 geborene farbige Musiker Lonnie Holley, der als Kind einer 27fachen Mutter in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen ist und sich mit der Erstellung von Sandstein- und Müllskulpturen einen Namen in der Kunstszene gemacht hat. Entsetzt ist Holley über den weltweit wiederaufkeimenden Rassismus. "I woke up in a fucked up-America", beklagt er auf seinem neuen Album "Mith", das er im Stile alter Jazz-Großmeister chillig-abgeklärt in den Österreichhallen präsentierte.
Nach Mitternacht werden die Donaufestival-Besucher aufgeheizt durch heiße Beats, freitags durch das Bristoler Techno-Duo Giant Swan, dessen schweißüberströmte Auftritte mehr an den Punk-Style der 70er erinnern als an die kühle Laptop-Generation der gegenwärtigen DJ-Elite, samstags durch den italienischen Afro-House-DJ Khalab, dessen Debüt-Album "Black Noise 2084" ausgezeichnete Kritiken einheimste.
In die Festival-Philosophie ideal passt die Sängerin und Produzentin Lafawndah. Yasmine Dubois, so ihr bürgerlicher Name, ist in Teheran geboren, war eine Zeit lang in New York und lebt nun in Paris. Ihr Sound eine faszinierende Mischung aus R&B, Electro und orientalischen Vocals.
Neues Material in Form ihres Albums "Proto" existiert auch von der US-Wahlberlinerin Holly Herndon, die die menschliche Stimme wieder in den Mittelpunkt ihrer Tracks stellt und im Kremser Stadtsaal mit zahlreichen Vokalisten auftritt. Gesellschaftskritisch äußerte sich Herndon zuletzt über Künstliche Intelligenz, die Datenmacht privater Technologie-Firmen (wie Facebook, Google und Apple) und die Gefahr einer vollautomatisierten Zukunft. Themen, mit denen sich auch eine "New Society" beschäftigen muss, ob sie will oder nicht.