"Say Hello, Wave Goodbye" - Der traurige Abschied der Briten aus der EU!

"Never gonna give EU up" (in einer Abwandlung des Rick Astley-Popklassikers), "This is our star, look after it for us" oder die imposanten "We still love EU"-Installationen an den weltberühmten White Cliffs of Dover (dort wo die Entfernung zur französischen EU am kürzesten, nur 34 Kilometer, ausmacht): Die letzten Protestkundgebungen der Remainers mit der gleichzeitig bitteren Gewissheit, dass der Austritt nicht mehr aufzuhalten ist.

 

The Clock is ticking. Boulevardmedien titeln ungeniert "Our Time has come", ein ansonsten erfolgloser Politiker namens Nigel Farage feiert auf dem Westminster Square mit frenetischen "Leavers", im urbanen London sind sie dennoch klar die Minderheit. Auf das Haus Downing Nr. 10, dem Sitz von Premierminister Johnson, wird eine Countdown-Uhr projiziert, als unterste Ebene fungiert die Union Jack. Um 24 Uhr Mitteleuropäische Zeit (23 Uhr britische Zeit) stoppt sie. "We´re out": Das United Kingdom ist nach 47 Jahren Mitgliedschaft nicht mehr Teil der Europäischen Union. Ein Schock, von dem man sich als progressiver EU-Supporter und Anhänger britischer Lebenskultur lange nicht erholen wird.

Begonnen hat die Brexit-Odyssee mit jener von EU-Befürwörter James Cameron sinnlos inszenierten Volksabstimmung am 23. Juni 2016, bei der 51,89 % der Teilnehmer für den Austritt votierten. Bei Analyse der Abstimmung zeigte sich, dass ähnlich - wie beim Wahlsieg der rechtskonservativen Kurz-ÖVP - bestimmte Wählergruppen und Faktoren die treibenden Kräfte waren:

 

1.) Alter: Während die 18-24jährigen mit 80 Prozent bzw. die 25-49jährigen zu 55 Prozent in der EU bleiben wollten, votierten die Älteren (die auch noch überproportional zu den Wahlurnen schritten) mehrheitlich für den Brexit. Eine fast unverantwortliche Entscheidung gegen die Interessen ihrer Kinder und Enkel.

 

2.) Parteien: 59 Prozent der Konservativen wollten den Brexit, während bei den Labour-Anhängern 68 Prozent und bei den Liberaldemokraten sogar 71 Prozent Teil des Europäischen Binnenmarktes bleiben wollten.

 

3.) Stadt vs. Land: Klare Mehrheiten für die EU gab es in den Großstädten und urbanen Zentren, in London 60 Prozent, in Liverpool 58, in Manchester sogar über 60 Prozent. Anders in den ländlichen Regionen, wo bei hoher Arbeitslosigkeit gleichzeitig eine Angst vor Zuwanderung aus der EU (und damit Konkurrenz) herrscht und daher bis zu 75 Prozent für den Brexit stimmten.

Als Folge der Volksabstimmung leitete die neue Premierministerin Therese May, eigentlich eine Brexit-Gegnerin, am 29. März 2017 den Austritt aus der EU und dem Euratom durch eine schriftliche Mitteilung an den Europäischen Rat ein. Eine zweijährige Verhandlungsdauer zur Erarbeitung eines Austrittsabkommens war aufgrund des einschlägigen Art. 50 des EU-Vertrags vorgesehen, sie wurde im Jahr 2019 noch dreimal verlängert.

 

Neuwahlen am 12. Dezember 2019 brachten es mit sich, dass die Konservativen aufgrund des Mehrheitswahlrechts die absolute Mehrheit im Unterhaus erreichten. Hauptgrund für den Wahlerfolg: Johnson versprach, das "Brexit"-Chaos zu beenden. Und das imponierte auch Labour-Wähler, die mit dem zauderhaften Verhalten ihres Parteiführers Corbyn haderten. Obwohl die Mehrheit der Briten entsprechend ihrer Parteienpräferenz eigentlich für den Verbleib in der EU votierte, boxte Premierminister Boris Johnson das "Brexit-Gesetz" durch Unter- und Oberhaus. Am 29. Jänner 2020 stimmte das EU-Parlament dem Abkommen zu, zwei Tage später um Mitternacht ist das 47jährige EU-Abenteuer der Briten beendet. „Say Hello, Wave Goodbye“. Was das wirklich bedeutet, ist kaum einschätzbar.

Bis Ende 2020 wurde auf jeden Fall eine Übergangsphase festgelegt. Innerhalb von 11 (!) Monaten - bei einer einmaligen Verlängerungsoption um 2 Jahre (die bis zum 1. Juli 2020 getroffen werden muss) - soll ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem United Kingdom ausgehandelt werden.

 

Die Briten müssen zwar noch Mitgliedsbeiträge zahlen, haben aber kein Stimmrecht mehr in der EU. Im Parlament sitzen ab sofort nur mehr 705 Abgeordnete. Die Einwohnerzahl in der EU reduziert sich von 512 auf ca. 446 Millionen.

 

Das EU-Recht gilt weiterhin in vollem Ausmaß für die 3,2 Millionen EU-Bürger im UK und für die 1,2 Millionen Briten in der EU, egal, ob diese dort arbeiten, studieren oder nur aufenthaltsberechtigt sind. EU-Bürger, die sich offiziell im UK aufhalten, können bis 30. Juni 2021 einen Antrag auf einen „Settled Status“ (= Daueraufenthaltsrecht) stellen. Bei einem ungeregelten Brexit läuft die Frist am 31. Dezember 2020 ab. Leistungen wie Pensionen und Gesundheitsfürsorge gelten als garantiert.

 

Bei einer Reise nach Großbritannien sind weiterhin ein Personalausweis oder ein Reisepass mitzunehmen, da die Briten dem Schengen-Abkommen nie beigetreten sind. Ab 2021 werden dann nur mehr Reisepässe akzeptiert. Die Roamingkosten für Surfen und Anrufe in die Heimat bleiben vorerst unverändert bei Null, ab Jahresende hängen diese von der Einstufung in die Länderzonen ab.

 

Die heiklen Verhandlungspunkte bezüglich der irischen Grenze zwischen Nordirland (UK) und Irland wurden insofern gemildert, als Nordirland weiterhin die EU-Regeln (vor allem bei Produkt- und Hygienestandards oder Vorgaben für Tier- und Lebensmittelkontrollen) anwenden kann, um Grenzkontrollen zu verhindern. EU-Zölle sind einzuheben, falls Waren außerhalb Europas in die EU gelangen könnten. Nordirlands Parlament darf alle vier Jahre entscheiden, ob es diese Vereinbarung einhält.

 

Bei Streitigkeiten über die Austrittsvereinbarung entscheidet ein Schiedsgremium, dessen Beschlüsse bindend sind. Es kann dabei auch den Europäischen Gerichtshof anrufen und Geldbußen verhängen. Werden Schiedssprüche nicht eingehalten, können von der anderen Seite Teile des Austrittsabkommens ausgesetzt werden.

 

Während die EU-Verhandler eine softere Lösung anvisieren, die Großbritannien – bei Beibehaltung von Standards im Wettbewerbsrecht, Arbeitnehmerschutz oder in Umweltthemen – weiterhin eng an die EU bindet, deutet Boris Johnson an, dass das britische Volk sich für die Loslösung von der EU entschieden hat und daher neuerliche EU-Zwangsnormen abzulehnen sind.

 

Es bleibt spannend im Konfliktherd zwischen EU und UK. Wobei: Angesichts der Bedeutung dieser Materie für die Bürger und Unternehmen wären wohl weniger Spannung und Hitzköpfigkeit als mehr Sachlichkeit und Expertentum wünschenswert.