Einkaufen ja, Demonstrieren nein: Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig eingeschränkt!

In Tel Aviv demonstrierten tausende Menschen gegen den Regierungschef Netanjahu, mit Masken und Sicherheitsabstand. In Libanon protestierten die Bürger – in Form eines Autokorsos – gegen die Korruption in ihrem Land. In Österreich gehen die Uhren anders. Im Rahmen einer Pressekonferenz vom 6. April verkündeten Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Kogler, dass alle Versammlungen bis Ende Juni untersagt sind. Ein eklatanter Eingriff in die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, und das wie üblich ohne substantielle und rechtliche Erläuterungen.

 

Geregelt ist die Versammlungsfreiheit im Art. 12 der EU-Grundrechtecharta, im Staatsgrundgesetz, der Europäischen Menschenrechtskonvention bzw. auf einfachgesetzlicher Ebene im Versammlungsgesetz. Gemäß Art. 11 der MRK hat jede Person das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln. Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder wie im Fall der Corona-Krise zum Schutz der Gesundheit.

 

Versammlungen sind schriftlich der Bezirksverwaltungsbehörde (in Wien der Landespolizeidirektion) – seit einer Novelle 2017 – mindestens 48 Stunden vor der Abhaltung unter Angabe des Zwecks, des Orts und der Zeit der Versammlung anzuzeigen. Eine Genehmigung ist nicht vorgeschrieben. Es können daher auch Spontanversammlungen durchgeführt werden, die Nichtanzeige stellt juristisch nur eine Verwaltungsübertretung dar und führt alleine nicht zu einer Auflösung der Demonstration.

 

Im vorhinein kann eine Demonstration durch einen Bescheid untersagt werden, wenn diese die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet. Auf den § 6 des Versammlungsgesetzes berufen sich auch die österreichischen Behörden, die seit 16. März alle (!) Demonstrationen verboten haben. So wurde aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos größerer Menschenmengen u.a. eine Demonstration der ÖH Uni Wien mit vier (!) Personen untersagt, obwohl diese laut ihrer Anzeige einen Mindestabstand von zwei Meter einhalten wollten und außerdem mit Mund-Nasen-Schutz und Handschuhen ausgestattet wären.

 

Die ÖH sieht dies als Schikane: „Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit werden geopfert, während gleichzeitig auf Baustellen und in Fabriken weitergearbeitet wird“. Die mangelnde Verhältnismäßigkeit kritisieren auch renommierte Verfassungsjuristen wie Dr. Benjamin Kneihs, der davon ausgeht, dass „bei einer zunehmenden Lockerung der Bewegungseinschränkungen auch der öffentliche Raum für die Versammlungsfreiheit geöffnet werden muss“, ansonsten die jeweiligen Rechtsakte als grundrechtswidrig zu betrachten sind.

 

„Demonstrieren ist nicht unwichtiger als Einkaufen“, so kongenial formuliert es der deutsche Verfassungsjurist Kay Waechter. In Deutschland, wo in Gegensatz zu Österreich per Eilverfahren Gesetze und Verordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden können, wurde bereits durch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden, dass pauschale Demonstrationsverbote während der Corona-Krise unzulässig sind. Bis dato wurden Versammlungsverbote mit kreativen Aktionen umgangen, indem die Teilnehmer sich beispielsweise mit politischen Transparenten in Schlangenlinie vor Bäckereigeschäfte stellten.

 

Grundrechte sind allerdings keine Instrumente des Jux und der Tollerei, sondern Rechte der Bürger gegenüber dem (zumeist) obrigkeitlich handelnden Staat, die auch im Ausnahmezustand nicht unverhältnismäßig außer Kraft gesetzt werden dürfen. Im Gegenteil: Ein liberaler Staat hat Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit aktiv zu gewährleisten. Auch wenn sich Demonstrationen inhaltlich zumeist gegen Maßnahmen und Aktivitäten des Staates richten.