Der britische Schriftsteller Oscar Wilde hat nur einen einzigen Roman geschrieben. Dieser aber prägt seinen Weltruhm bis heute. Eine Geschichte über ewige Jugend, Dekadenz und Hedonismus, die sich zum Inhalt zahlreicher Theaterstücke, Opern oder Filme kristallisierte und immer wieder Debatten über den gesellschaftlichen Lifestyle auslöste. Sogar Diskotheken und Clubs wurden nach der Hauptfigur des Romans benannt: Dorian Gray. Jener junge, naive Jüngling, der von einem Maler (Basil Hallward) kunstvoll porträtiert wurde, sich in sein „Spiegelbild“ verliebte und sich wünschte, sein Bild solle altern, er aber ewig jung bleiben. Dieser sehnsüchtige Wunsch sollte sich erfüllen.
Regisseur Bastian Kraft konzipierte aus diesem Roman-Stoff eine multimediale One-Man-Show, die erstmals am 19. März 2010 im Vestibül des Burgtheaters uraufgeführt wurde. Im Epizentrum steht die Titelfigur Dorian Gray, dunkel gekleidet, mit Blattgold im Gesicht. Als Hauptdarsteller fungiert der deutsche Schauspieler Markus Meyer, der seit einer Rolle in Tennessee Williams „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ 2005 zum fixen Ensemble des Burgtheaters zählt. Meyer personifiziert aber gleichzeitig auch alle anderen Figuren des Wilde-Dramas, und zwar per Videoinstallation auf 17 Screens, die auf einer Stahlkonstruktion montiert sind. Diese Aufnahmen wurden bereits 2010 gedreht, im Gegensatz zum Hauptdarsteller sind sie – wie das geheimnisvolle Porträt – niemals gealtert. Verändert wurde lediglich die Location: Das überaus populäre Stück wanderte vom räumlich begrenzten Vestibül ins Akademietheater, wo im Oktober 2020 bereits die 200. Aufführung gefeiert wurde.
Auch zu Silvester verwandelte sich Meyer wieder in den ewigen Jüngling Dorian Gray, live geschminkt vor der unmittelbaren Aufführung. Und tritt dann, akrobatisch kletternd auf dem Gerüst, in direkte Kommunikation mit seinen Alter Egos, dem snobistischen Lord Henry (der Dorian Gray mit seinen Aphorismen umschmeichelt), dem Maler Basil Hallward (der nicht nur in sein Porträt, sondern auch in den Porträtierten, Gray himself, verknallt ist), dem Chemiker Alan Campbell und dem langhaarigen, verrucht aussehenden James Vane, der Rache für den Selbstmord seiner Schwester Sybil schwört. Jene Theaterdarstellerin, in die sich Dorian Gray zuerst verliebt, die er dann aber skrupellos fallen lässt, als ihre schauspielerischen Künste aufgrund ihrer Liebe zu ihm schwinden („Die gemalten Kulissen waren meine Welt. Du lehrtest mich, was die Wirklichkeit wirklich ist“).
Eine perfekt getimte Inszenierung, die vom Hauptdarsteller nur mit höchster Konzentration und Akribie performt werden kann. Die nahezu ausverkaufte Audienz dankte am Silvesterabend mit tosendem Applaus. Solange Meyer weiterhin so topfit bleibt, dürfte Dorian Gray wohl noch viele weitere Male einen tragischen Tod sterben. Und das (in der Aufführung nicht zu sehende) Porträt wieder seine juvenile Makellosigkeit erlangen…