Traditionell treffen an den letzten zwei Aprilwochenenden zwei Parallelwelten in der bevölkerungsmäßig gar nicht so kleinen 25.000 Einwohner-Stadt Krems aufeinander. Auf der einen Seite das heimische Brauchtum und die Fortgehriten der Kremser Einwohner im Sinne von Maibaumaufstellen, Trachtentänzchen in der Fußgängerzone, Blaskapellen oder biergeschwängerte Regionalligafußballabende im legendären Sepp Doll-Stadion, auf der anderen Seite die exzessiv-düsteren Paradiesvögel, Ikonen und Nachtschattengewächse des Kremser Donaufestivals in den ansonsten kaum genützten alten Österreichhallen.
„Community of Aliens“ lautet das diesjährige Motto des von Thomas Edlinger kuratierten tageweise ausverkauften Festivals, das Szene-Insider, Hipster und Alternative-Freaks aus ganz Europa mit Performances, Cyborg-Installationen, Anti-Apartheid-„Whiteface“-Art (Candice Breitz in der Kunsthalle Krems) und Konzerten nach Krems lockt. Edlinger stellt in seiner theoretischen Abhandlung den altruistischen Wunsch, „das Fremd-Sein im eigenen Land, im eigenen Kopf, im eigenen Körper mit dem Fremd-Sein der anderen in Verbindung zu treten zu lassen“. Ob dieser real in Erfüllung getreten ist, bleibt abzuwarten. Der Anteil „Kremser Aliens“ an der Donaufestival-Community dürfte wie üblich überschaubar gewesen sein.
Das musikalische Spektrum wurde beim diesjährigen Donaufestival wieder breit abgesteckt. In der Minoritenkirche begeisterte die in Berlin lebende italienisch-niederländische Experimental Sound-Produzentin Aimee Portioli (aka Grand River) mit einem akustischen Ambient-Mix aus Klavier, Orgel, Gitarre, Cello und Samples und faszinierenden Visuals. Kongenial definiert durch ihr künstlerisches Motto: „Erst war ich eine Person, und dann wurde ich zu einem Fluss“. Maria Chavez, Mariam Rezaei und Victoria Shen dagegen verlegten sich im Stadtsaal auf ihre Profession „Turntablism“ und erzeugten mit auf künstlichen Fingernägeln platzierten Nadeln knisternd-kreischende Vinyl-Geräusche. Düsteren, authentischen Hip Hop gegen Rassismus und gesellschaftliche Missstände lieferte das kalifornische Trio Clipping. Dessen Frontman Daveed Diggs gewann übrigens 2016 einen Grammy für seine Doppelrolle im Broadway-Musical „Hamilton“.
Queeren Touch präsentiert die chilenische Formation Föllakzoid mit ihrer Front-Gitarristin Domingae, die immer wieder auf der Bühne mit einem Weingläschen herumtänzelt und mit den Besuchern flirtet. Der Sound: Ein Uplifting-Mix aus Trance, Psychedelic und Krautrock. „Als Künstlerin, Homosexuelle und Athestin war es für mich gefährlich, in Tunesien zu leben“, so die jetzt in Paris lebende Produzentin Deena Abdelwahed, die bereits zum zweiten Mal nach 2021 das Kremser Donaufestival mit ihrem Arabic Ethno House und orientalischen Visuals beehrt. 2023 hat sie ihr neues Album „Jbal Rrsas“ veröffentlicht, sie vermischt dabei die rhythmischen und melodischen Muster der arabischen Musik mit den westlichen Samples und Werkzeugen. Rap, Electro und Afro House: Das sind die zentralen Genres der nigeranischen Rapperin Aunty Rayzor, die weit nach Mitternacht mit ihren scharfen Rhymes und treibenden Beats die Festival-Fans Richtung Dancefloor hypnotisiert.
Die kommerziellen Headliner der diesjährigen Ausgabe des Donaufestivals waren zweifelsohne die schottischen Alternative Rocker „The Jesus and Mary Chain“, die mit ihrem Debüt-Album „Psychocandy“ (1985) und Songs wie „My Candy Talking“, „April Skies“ und dem in „Lost Translation“ glorifizierten „Just like Honey“ nicht nur die UK-Top 40 stürmten, sondern auch einen gewissen Kult-Status in der darken Szene genossen. Kein Wunder, dass der Tag 1 des Donaufestivals bereits Wochen vor dem Auftritt die Etikette „sold out“ trug.
Die Brüder Jim und William Reid waren nicht nur für ihre wilden Live-Konzerte bekannt, sondern auch für ihre ausschweifenden Drogen- und Alkoholexzesse. Ein Streit auf der Bühne im September 1998 beendete für fast zehn Jahre die Zusammenarbeit, bis 2007 eine Reunion der Band bei diversen Festivals stattfand. 2024 veröffentlichten sie ihr achtes Album „Glasgow Eyes“, das sie im Rahmen einer Europa-Tour auch beim Kremser Donaufestival vorstellten.
Mit dabei Synthi-Tracks wie der Opener „Jamrod“ (aka Jesus and & Mary Chain Overdose), das Chemical Brothers-inspirierte „Venal Joy“ und das heute nur mehr als softe Provokation wirkende „Chemicals“ mit der Text-Line „I fill myself with chemicals to hide the dark shit I don´t show“. Eighties- und Nineties-Nostalgiker durften sich auf einen Streifzug durch die Hits ihrer Blütezeit freuen. Stark der Final Song „Reverence“ mit einem langen Rave-Intro und den damals skandalträchtigen Lyrics „I wanna die just like Jesus Christ“. Aus dem Jahre 1992, als das Kremser Donaufestival in seiner jetzigen Form noch in weiter Ferne lag…