2022 ereigneten sich rund 65 Prozent aller Verkehrsunfälle mit Toten oder Verletzten im Ortsgebiet. 109 Personen verunglückten dabei tödlich, laut Verkehrsministerin Gewessler „werde im Schnitt alle 20 Minuten ein Mensch, der im Ortsgebiet unterwegs ist, im Verkehr verletzt“. Als Hauptursachen gelten neben „Unachtsamkeit“ und „Vorrangverletzung“ die „nichtangepasste Geschwindigkeit“. Durch die kürzlich im Parlament beschlossene 35. StVO-Novelle existiert nun ab 1. Juli 2024 eine einfachere gesetzliche Grundlage für Städte und Gemeinden, durch Temporeduzierungen die Sicherheit im Straßenverkehr zu verbessern.
Gemäß dem neuen § 43/4 a StVO kann „die Behörde in Ortsgebieten in Bereichen mit besonderem Schutzbedürfnis die erlaubte Höchstgeschwindigkeit (von generell 50 km/h) verringern, sofern die Maßnahme zur Erhöhung der Verkehrssicherheit insbesondere von Fußgängern oder Radfahrern geeignet ist.“ Als Bereiche werden – demonstrativ aufgezählt – Schulen, Kindergärten, Freizeiteinrichtungen, Krankenhäuser und Senioreneinrichtungen genannt. Ein „besonderes Schutzbedürfnis“ ist gemäß den Erläuterungen vor allem dann gegeben, wenn diese vorrangig von Kindern, Jugendlichen, alten Menschen oder Menschen mit Behinderungen frequentiert werden. Darunter fallen Spielplätze oder sportliche Einrichtungen für diese Personengruppen, nicht allerdings Vereinslokale für „nichtprivilegierte“ Erwachsene.
Liegen die oben genannten Voraussetzungen vor, dann kann die zuständige Behörde eine Temporeduzierung auf 30 km/h vornehmen. Bis dato waren dazu teure Gutachten notwendig, die die Geschwindigkeitsbeschränkungen legitimieren mussten. Zusätzlich hat die Gemeinde aufgrund der StVO-Novelle die Möglichkeit, selbst Radarkontrollen durchzuführen (sofern das Land eine Übertragungsverordnung erlässt). Bedarf nach erweiterten Verkehrskontrollen besteht auf jeden Fall. Laut einer Messung des Kuratoriums für Verkehrssicherheit im Jahr 2022 fuhren 72 Prozent (!) der freifahrenden PKW in einer Tempo 30-Zone mehr als die erlaubten 30 km/h.
Der Verkehrsclub VCÖ (Mobilität mit Zukunft) betrachtet die Tempo 30-Einführung im Ortsgebiet als klare Verbesserung der Lebensqualität und der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum. Das Risiko tödlicher Verletzungen für Gehende sinke bei Kfz-Unfällen bis zu 75 Prozent. Die Temporeduktion hat auch zur Folge, dass der Radverkehr steigt (zuletzt nachgewiesen in Bilbao und Lille). Außerdem sinkt neben der Luftschadstoffbelastung auch die Lärmbelastung für die Einwohner: Der Dauerschallpegel soll sich um durchschnittlich drei Dezibel reduzieren, was das menschliche Ohr wie eine Halbierung der Verkehrsmenge wahrnimmt.
Warum angesichts dieser positiven Auswirkungen weiterhin gesetzliche Voraussetzungen für die Temporeduktion normiert sind, ist eigentlich nicht ganz nachvollziehbar. Der VCÖ fordert in seinem Maßnahmenkatalog dementsprechend, dass Städte und Gemeinden OHNE Einschränkungen und Hindernisse Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit umsetzen können und im Ortszentrum, in Wohngebieten und vor Schulen verpflichtend Tempo 30 eingeführt wird. Die von ÖVP, Grüne und Neos beschlossene StVO-Novelle ist insofern zwar ein Schritt in die richtige Richtung, geht allerdings noch nicht weit genug…