Laut der EU-SILC-Erhebung vom April 2024 waren im Jahr 2023 in Österreich 336.000 Menschen erheblich materiell und sozial benachteiligt, um 135.000 Personen mehr als 2022. Die Armutsgefährdung liegt bei 14,9 Prozent, das entspricht rund 1,3 Millionen Menschen. Als besonders armutsgefährdet gelten Alleinerziehende (41 %), Familien mit mindestens drei Kindern (31 %) und natürlich Arbeitslose, deren staatliche Leistungen (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe) weiterhin nicht valorisiert werden. Apropos Inflation: Man kann davon ausgehen, dass sich die Werte aufgrund der extrem gestiegenen Lebensmittel-, Wohn- und Energiekosten, der Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit verschlimmern werden.
Der Sozialexperte, Aktivist und Mitgründer der Armutskonferenz, Martin Schenk, hat über die Armut ein spannendes Essay unter dem Titel „Brot und Rosen“ geschrieben. Der ungewöhnliche Titel bezieht sich auf zwei historische Anekdoten. Einerseits auf die Legende der Prinzessin Elisabeth, die im 13. Jhdt. entgegen dem Willen der Herrschaft in der Grafschaft Thüringen Brot an das arme Volk verteilte. Als sie von den Wachen ertappt wurde, verwandelte sich der Korb Brot in einen Strauß Rosen. Andererseits an einen Streik von 20.000 Textilarbeiterinnen in Massachusetts im Jahr 1912, die bei der Kundgebung den Banner „Wir brauchen Brot, aber wir brauchen die Rosen dazu“ in die Höhe streckten.
Unter „Brot“ verstanden die Streikenden die existentiellen Lebensgrundlagen (wie Arbeit, Einkommen und leistbares Wohnen), unter „Rosen“ die immateriellen Bestandteile des Lebens wie Anerkennung, Freundschaft, Kultur und Freizeit. Bei der Buch-Präsentation in der Buch Wien zog Schenk Parallelen zur Situation armer Volksschulkinder. Diese werden durch ihre finanziell missliche Lage gleich doppelt benachteiligt.
Neben der materiellen Armut (die sich vor allem bei der Versorgung mit gesunden Lebensmitteln, beim Heizen oder in der mangelnden Wohnausstattung widerspiegelt) können ärmere Kinder zumeist nicht an kostenpflichtigen Schulveranstaltungen teilnehmen. Auch gemeinsame Freizeit mit Freunden in Sportvereinen, Lokalen oder Kinos ist für diese Kinder nur eingeschränkt möglich. Im Extremfall werden sie sogar wegen minderwertiger Kleidung oder Schulausrüstung von Klassenkollegen gemobbt.
„Der Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit“, so der Untertitel des Buchs. Schenk betrachtet die Armut als existentiellen Freiheitsverlust, der mit zahlreichen negativen Konsequenzen verbunden ist: Isolation, Rückzug aus der Gesellschaft, Beschämung, Ohnmacht und ein Verlust der Selbstwirksamkeit. Dies äußert sich auch in der geringeren Beteiligung finanziell schwächerer Bürger an demokratischen Wahlen, was wiederum den verstärkenden Effekt auslöst, dass deren Probleme, Interessen und Wertvorstellungen von den zielgruppenorientierten Parteien nicht berücksichtigt werden.
Schenk verweist auf das „Parlament der Unsichtbaren“, ein Begriff, der vom französischen Demokratietheoretiker Pierre Rosenvallon geprägt wurde. Personen fühlen sich wertlos und ausgeschlossen, wenn sie von der Politik und der Gesellschaft nicht wahrgenommen werden. In einem Buch und auf einer Website hat Rosenvallon die Lebensbiographien von „gewöhnlichen Menschen“ veröffentlicht, die ansonsten im Dunkeln geblieben wären.
Vor allem in der Bildung müsse es endlich wirksame Reformen geben. Ein sozialer Chancen-Index a la London oder Toronto, verbunden mit der Einführung von Ganztagsschulen, könnte hier Abhilfe bitten. Schulen mit Kindern aus einkommens- oder bildungsschwächeren Familien oder mit höherer Migration sollen mehr finanzielle Mittel bekommen. Man müsse den Kindern mehr zutrauen, dann erzielen sie auch bessere Resultate (wie in speziellen Experimenten nachgewiesen wurde). Als Beispiel nennt Schenk Performing Arts-Kurse in London, bei denen benachteiligte Kinder im Schauspiel, Singen und Tanzen unterrichtet wurden.
Schenks Antwort auf die Frage von Moderatorin Katja Gasser, warum der Sozialstaat nicht mehr im Zentrum der politischen Debatte steht, lässt nicht zum ersten Mal ein zweifelhaftes Bild auf den Charakter der Bevölkerung werfen. „Der Neid suche immer das Ähnliche“, so der Sozialforscher. Die Menschen beneiden nicht den reichen Unternehmer oder den Millionenerben, sondern ihnen nahestehende Personen aus dem Bekanntenkreis oder derselben Gesellschaftsschicht. Manche verzichten lieber selbst auf Bonifikationen, damit nicht eine andere Gruppe diese auch bekommt.
In die Strategiepläne der rechtskonservativen Parteien sind diese unsozialen Verhaltensweisen längst eingeflossen, u.a. bei der Hetze gegen Bezieher der Mindestsicherung (die nur rund 1 Prozent der Sozialabgaben ausmacht) oder bei der strikten Ablehnung von Vermögens- und Erbschaftssteuern. Ein Gamechanger ist leider nicht in Sicht…